Didis Bücherturm

Sonntag, 17. Dezember 2017

Hier, wie versprochen, das 17. Söckchen unseres Blog-Adventskalenders - eine kleine, aber ungewöhnliche Weihnachtsgeschichte, zugleich eine Leseprobe von mir. Sie kommt ein paar Stunden verspätet, da ich gerade gesundheitlich nicht besonders gut drauf bin. Trotzdem viel Spaß beim Lesen!
Das nächste Söckchen findet Ihr unter einem dieser drei Links:

bloggewasichwill.de
mik-ina.de
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Viel Spaß!


Salomonische Weihnacht

Zum Jahreswechsel vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert feierten viele Menschen in Deutschland nicht das neue Zeitalter, sondern betrauerten den Verlust der Achtzehn, die rund hundert Jahre lang allen Jahreszahlen vorausgegangen war. Die Neunzehn war manch einem im Kaiserreich unsympathisch – handelte es sich doch um eine Primzahl, die sich dem preußischen Ordnungssinn widersetzte und sich weder teilen noch irgendwo einsortieren ließ. Eine Primzahl als Beginn aller Jahreszahlen des neuen Jahrhunderts forderte künftiges Chaos heraus, und das alte war noch nicht einmal richtig verdaut. Dementsprechend gab es wenig Feiern, aber mehr Gedenken.

Im Deutschen Schutzgebiet auf den Salomoninseln östlich von Neuguinea war das nicht anders. Man saß jedoch am Sylvesterabend in der Handelsstation beisammen und trank den eigens zusammengebrauten Jahrhundertpunsch – mangels edler Weine aus dem Rheingau hatte man diverse einheimische alkoholische Getränke mit lokalen Obstsorten gemischt und damit ein einigermaßen schmackhaftes Getränk von zur Zeit unbekannter Bekömmlichkeit zustande gebracht.

Ein Jahrhundertpunsch war unerlässlich – daheim, also im Kaiserreich, trank man ihn auf allen Sylvesterfeiern, zu Hause oder in den Bierhallen, mit köstlichen heimatlichen Zutaten, die hier in den Kolonien nicht erhältlich waren.

Von Rohde, der oberste Verwaltungsbeamte des nördlichen Salomon-Archipels, Stellvertreter des deutschen Gouverneurs von Neuguinea und Ozeanien, hatte mit seiner Familie den Sylvesterabend arrangiert – eingeladen war die gesamte Verwandtschaft des Handelsbeauftragten Leyensieff, also er selbst und seine gerade erst heiratsfähig gewordene Tochter, deren Kölner Akzent mehr an die deutsche Heimat erinnerte als das kühle Hamburger "Missingsch" von Balthasar Bohnsack, dem Besitzer der hiesigen Werft, die nichts weiter war als ein Stück schlammiges Ufer, wo bisweilen irgendwelche seeuntüchtige Dampfschiffe, die sich in diese am weitesten abgelegene aller deutschen Kolonien verirrt hatten, Monate oder Jahre auf Ersatzteile warteten und meist bei deren Eintreffen bereits verrottet waren. Außerdem war der junge Leutnant Friedrich Freiherr von Templin anwesend, der zur Zeit der höchste Vertreter des Reichsheeres vor Ort war.
Der junge Mann stand in dem Ruf, besonders hart gegen die Wilden im Landesinneren der Kolonie vorzugehen, und es gab das glaubhafte Gerücht, er habe die edelsten Teile eines selbst erlegten Menschenfressers vor den Augen von dessen Familie hemmungslos verzehrt, und zwar mit großem Genuss.

Von Rohde hob sein Glas, dass soeben vom splitternackt und lautlos dahinhuschenden Personal frisch gefüllt worden war. Für diesen denkwürdigen Abend hatte er zu diesem Zweck die Hauptfrau des Kannibalenhäuptlings und ihre beiden blutjungen Töchter persönlich kommen lassen.

"Auf das neue Jahrhundert", sagte er. "Möge es die Vergangenheit an Glanz übertrumpfen. Lang lebe der Kaiser."

"Lang lebe der Kaiser", kam das Echo aus allen Ecken der aus Palmstroh und dem erst seit Kurzem in Gebrauch befindlichen Wellblech erbauten Residenz von Rohdes, der hier den Kaiser repräsentierte und sich daher in den frommen Wunsch einbezogen fühlte.

Von Rohde hielt eine kurze Dankesrede und erinnerte daran, dass das Leben kurz sei, und ein einzelnes Jahr ohnehin, auch wenn es gerade erst begonnen hatte. "Wir müssen uns sogar bereits heute Gedanken machen, welche Geschenke wir zum nächsten Weihnachtsfest verteilen wollen", sagte er. "Der Suezkanal ist wieder mal von den Engländern für unsere Flotte gesperrt worden, und die Handelsschiffe müssen um Südafrika herum. Und dann muss alles, was hierher kommt, erst vom Zoll in Neuguinea genehmigt werden."

Er sah Leyensieff an, und dieser betrachtete den Blick als Aufforderung, zu sprechen. "In der Tat kommen wir nicht durch den Suezkanal."

"Das heißt, Bestellungen für die nächste Weihnacht müssen jetzt aufgegeben werden."

"Übermorgen", meldete sich Alwine Leyensieff, gerade erst vierzehn und damit heiratsfähig geworden, zu Wort. "Spätestens. Ich wünsche mir ein Eisbärenfell."

"Hier ist es doch nicht kalt", erinnerte ihr Vater.

"Stimmt", sagte sie. "Eher heiß, aber so ein Fell kühlt doch sicher im Sommer, wenn es im Winter wärmt. Außerdem sind wir doch auf der Südhalbkugel, oder?"

Niemand mochte dieser Frage nachgehen. "Ich überlege, was ich meiner Familie schenke", sagte von Rohde. "Man muss es ja jetzt schon bestellen. Vielleicht ein französisches Parfum für meine Frau. Es wird nicht einfach zu beschaffen sein."

Gertrud von Rohde rümpfte ziemlich unfein die Nase. "Französisch! Daraus mache ich mir gar nichts. Statt Parfum hätte ich gern einen echt englischen Kaschmir-Shawl mit Schottenmuster."

"Müssen wir unsere Wünsche unbedingt mit Waren aus Feindesland erfüllen?", warf Merklitz-Templin, der junge Leutnant, mehr vorwurfsvoll als fragend ein. "Genügt nicht so etwas richtig Deutsches, zum Beispiel ein Töpfchen Latschenkiefer-Fußbalsam aus dem Allgäu?"

"Und was soll man hier damit?", kam eine Frage aus der Runde.

Es ergab sich daraus eine angeregte Diskussion über sinnvolle Weihnachtsgeschenke in den deutschen Kolonien. Nicht alles konnte man hier gebrauchen, aber fast alles musste brieflich auf dem Seeweg in der Heimat bestellt werden und kam per Schiffsfracht geliefert. Die Hälfte verschwand in den Taschen der diversen Zollbeamten.

"Was bekommt bei Ihnen eigentlich das Personal als Geschenk?", fragte Alwine Leyensieff und versuchte, ein halbwegs erwachsenes Gesicht zu machen.

"Oh", sagte von Rohde, "das ist nicht schwer. Die Nackten bekommen schicke Baströckchen, wie sie in den Vereinigten Staaten für ihre kürzlich annektierten Bürger in Hawaii produziert werden. Schwieriger ist es mit den anderen Mitgliedern des Stammes, dessen Leute für uns arbeiten. Dafür müssen wir uns ja dem ganzen Stamm erkenntlich zeigen. Ich denke, ich lasse eine Kiste kubanische Zigarren aus Manila kommen. Der Medizinmann bekommt einen Handspiegel, mit dem er seinen Tripper bestaunen kann, die Frau des Häuptlings wird mit einer kostbaren Kette aus Muscheln bedacht, und der Häuptling selbst – na, das wissen wir jetzt noch nicht. Das ist jedes Jahr die große Frage. Was schenkt man einem Kannibalenhäuptling?" Er winkte seinen Butler heran, den einzigen Einheimischen, der mit einem Frack behängt war – ohne Hose, denn damit hätte man den Anblick seiner spitz zulaufenden Penishülle empfindlich gestört. "Die geweihte Hostie hat ihm letztes Jahr offensichtlich nicht gefallen. Wird Zeit, dass die Missionare, die sich hier herumtreiben, mal ihre Aufgabe erfüllen. Es ist eine Beleidigung unserer Kultur, wenn der Leib Christi ausgerechnet von einem Kannibalen als Köder zum Angeln verwendet wird."

"Das ist nicht verwunderlich", sagte der Butler, der den wohlklingenden Namen Fürst Bismarck zugeteilt bekommen hatte, weil man seinen einheimischen nicht aussprechen konnte. Er zuckte mit seinem langen Penisrohr. "Nach einem menschlichen Körper sah das nicht aus. Der Häuptling hätte lieber einen Braten, da bin ich mir sicher. Immerhin ist das ein Geschenk, das ihm seit über zehn Jahren vorenthalten wird. Ich darf erinnern, dass er Ihrem fremdartigen Volks- und Stammesgemisch, das sich Deutsche nennt,  ziemlich skeptisch gegenüber steht. Es beleidigt ihn, dass Sie regelmäßig Ihre Familienmitglieder dem Satan als Opfer darbringen, und er geht leer aus."

"Opfer? Dem Satan? Wir?" Von Rohde war erstaunt, die übrigen Anwesenden entrüstet.

"Sie machen doch keinen Hehl daraus", erwiderte Fürst Bismarck und hielt sein erneut zuckendes Rohr in Brusthöhe mit der linken Hand fest. "ich habe erst neulich persönlich gehört, wie Sie über Ihren jüngsten Sohn als Satansbraten gesprochen haben. Wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, ist dieser Sohn mit seinen zehn Jahren für unseren Häuptling schon zu alt. Ihm stehen ausschließlich möglichst frische Milchknaben zu."

"Säuglinge?", warf Alwine Leyensieff ein. "Igitt."

"Sie essen doch auch Spanferkel", erwiderte Bismarck. "Was also ist der Unterschied?"

"Da haben Sie recht", erwiderte von Rohde. "Außerdem wäre es diplomatisch ungeschickt, dem Häuptling sein Wunschgeschenk vorzuenthalten. Er soll seinen Säugling bekommen, auch wenn ich jetzt noch nicht weiß, woher wir einen nehmen sollen. Der Braten darf schließlich keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Eigene Kinder wegzugeben liegt uns nicht, jedenfalls nicht in Friedenszeiten."

"Ein Bastard würde ja reichen", erwiderte Fürst Bismarck und bohrte mit der Spitze seines Penisrohrs nachdenklich in der Nase. "Eine Ihrer Damen hier" – er sah die kleine Leyensieff intensiv an, so dass die Jungfer zusammenzuckte – "könnte sich zur Verfügung stellen, und ich als Ihr ranghöchster einheimischer Angestellter werde sie nach hiesigem Ritual befruchten."

Alwine Leyensieff ergriff die Flucht, und ihr Vater folgte ihr. Von draußen drangen gezischelte Worte wie "Lass dir doch erklären" und "du tust es für Kaiser und Reich" in die weitläufige Hütte.

"Ich glaube", sagte Bohnsack, "ich könnte das erledigen. Ich habe einen dänischen Pass, da ich in Hamburg-Altona geboren bin. Vielleicht reicht das für einen Bastard. Allerdings möchte ich keine noch heiratsgeeignete Dame deflorieren. Vielleicht könnte Ihre Frau..."

"Nicht mit Ihnen, Herr Bohnsack!", protestierte Gertrud von Rohde, die die ganze Zeit schweigend dabei gesessen und eine uralte Aachener Printe zwischen den Fingern zerkrümelt hatte. "Sie sah den Butler mit dem Namen Fürst Bismarck an, ein wenig herrisch, was ohnehin ihr Naturell war. "Schicken Sie mir ab morgen früh bis zum Aschermittwoch täglich einen ihrer Kannibalen hierher in die Residenz, aber bitte erst, wenn er ausreichend gefrühstückt hat. Es müsste dann klappen. Du bist doch einverstanden, Hansi?" Sie warf ihrem Mann, dem stellvertretenden Gouverneur und Repräsentanten des Kaisers im größeren Teil der Südsee, einen vielsagenden Blick zu.

"Aber ja", erwiderte von Rohde. "Ich werde als dein Beschützer zugegen sein, damit dir kein Leid geschieht. Ich nehme an, du wirst dafür den jungen Leutnant hier sausen lassen."

Merklitz-Templin knallte die Hacken zusammen, nickte mit dem Kopf wie ein frisch Guillotinierter und sagte: "Ich trete selbstverständlich den Rückzug an, Herr Vizegouverneur."

Die Frau des Angesprochenen schenkte ihm dafür ein Augenzwinkern, das ihn vermuten ließ, darüber werde noch zu reden sein.

 *

Es hatte geklappt. Zwischen Neujahr und Ende Februar hatte Gertrud von Rohde mit nahezu jedem männlichen Stammesmitglied, das nicht durch widrige Umstände mit einem deutschen Pass belastet war, Zeugungssitzungen absolviert und war erfolgreich mit einem Bastard trächtig geworden, den sie mittlerweile behutsam ausgetragen hatte. Der frisch geborene Knabe bekam wöchentlich die üblichen Stammeszeichen auf die Haut gemalt, allerdings nicht mit buntem Lehm, sondern mit importierten Gewürzen. Er wurde gut genährt, an Gertruds germanischer Brust. Sie würde es leicht schaffen, sich später von ihm zu trennen – er hatte eine eindeutig undeutsche Hautfarbe und ein hässliches Menschenfressergesicht. Wenn man von ihm einem Schrumpfkopf herstellte, wäre dieser kaum größer als eine Walnuss.

Die Übergabe fand am folgenden Weihnachtstag in festlichem Rahmen statt, mit Fahnenappell, Nationalhymne, Säbelgeklirr und zwei oder drei Reden. Zum Abschluss ertönte feierlich das "Stille Nacht, Heilige Nacht", von den Kannibalen auf riesigen Muscheln geblasen.

Der Bastard schwieg die ganze Zeit, als wäre er bereits mariniert.

Später, als die deutschen Kolonialherren sich in ihre europäische Anständigkeit zurückgezogen hatten, saß der Kannibalenhäuptling mit seinen Ältesten zusammen, um zu beraten, wie der Braten zubereitet werden sollte. Im Erdofen, auf dem Grill oder als Eintopf – die Diskussion ging breit auseinander.

Der Häuptling machte dem ein Ende, indem er sagte: "Ich werde ihn gar nicht verspeisen. Und ihr bekommt euren Anteil in anderer Form. Wir ziehen ihn heran, geben ihm gut zu essen und  schicken ihn in den Norden, nach Manila. Dort kann er auf dem Jesuiten-Seminar sein Abitur machen, findet auf der Spanischen Universität genug Kontakt zu Revolutionären und kann dann Chef der Volksfront für die Befreiung der Salomonen von der Kolonialherrschaft werden."

"Das ist gut", rief der Medizinmann begeistert aus. "Ich überlasse ihm dann all meine Gifte und bösen Flüche."

"Und ich schenke ihm meine Rente", sagte Fürst Bismarck.

"Und ich werde mit Begeisterung zusehen, wie unsere selbst ernannten Herren sich darum reißen, ihn ausbilden zu dürfen", erklärte der Häuptling. "Und das nur, damit er später ihren Thron umstürzt."

"Aber was willst du stattdessen zu Weihnachten essen?", fragte Fürst Bismarck.

Der Häuptling zuckte mit den Schultern und seinem äußerst langen Penisrohr, das darauf ruhte. "Du gibst mir am besten ein paar Bröckchen von deinem Vizegouverneur ab. Den schaffst du eh nicht ganz allein."

*


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