Sonntag, Arbeitstag
Nachdem ich den ganzen Tag gearbeitet hatte, überkam mich
das Bedürfnis, an die frische Luft zu gehen. Es war kein sonniger Tag, und als
ich gegen 17 Uhr draußen war, hätte es Mitte November sein können, statt Frühling.
Die einzige Möglichkeit, hier in der Nähe spazieren gehen zu können, ist der
Nordfriedhof.
Ich nahm bewusst einen anderen Weg als den, den ich sonst
zur Post gehe, und studierte die Namen auf den Grabsteinen. Es gibt sie noch,
die alten schwäbischen Familiennamen wie Demharter oder Geiger, wie sie in
meinem neuen Krimi auftauchen, aber zunehmend finden sich russische, polnische,
türkische oder gar chinesische Namen. Viele sind nicht einmal so alt geworden
wie ich es jetzt bin.
Auf dem Friedhof
Die vielen Blumen, Schneeglöckchen und Krokusse, die hin und her huschenden Eichhörnchen und die schimpfenden Vögel brachten mir doch eine frühlingshafte Leichtigkeit, aber rings um mich her waren Grabsteine und Trauergestecke. Ich verließ den Friedhof und ging zwischen der Außenmauer und der Bahnlinie entlang. Züge vermitteln mir immer eine Art Aufbruchstimmung.
Was passiert mit meinen Lieben, dachte ich, wenn ich nicht mehr bin?
Meine zweite Frau ist halb so alt wie ich, unsere Tochter ist drei.
Das einzige, was
ich ihnen hinterlassen kann, sind die Bücher, die ich schreibe. Ich habe vor
einem halben Jahr eine Archiv-Stiftung in Württemberg gefunden, die meine
Sachen in Verwahrung nehmen würde. Das klappt nur, weil ich auch eine Weile in
Württemberg gelebt habe. Ich kann Belegexemplare, Manuskripte, Fragmente,
Briefe, Fotos usw. dort unterbringen und habe eine Kiste im Arbeitszimmer
stehen, in die alles hineinkommt, was ich für würdig erachte.
Nun habe ich mehrere Archivkartons mit Fotos. Einen habe ich
schon durchgesehen. Viel davon konnte auf den Müll. Landschaften, von denen ich
nicht mehr weiß, wo sie sind oder warum ich sie aufgenommen habe. Strukturen
wie Baumrinden, Steine, Flechten - in schlechtester Fotoqualität und zum Teil
dreißig bis vierzig Jahre alt. Weg damit. Diesen Ballast habe ich Jahrzehnte mit mir herumgeschleppt! Familienfotos werden eingescannt und gehen an meinen Bruder, für die
Familienchronik. Fotos aus meinem Leben werden ebenfalls eingescannt und gehen
zum Teil mit an das Archiv. Manchmal, wenn sie wichtige oder interessante
Erinnerungen hervorrufen, könnte ich sie auch hier einstellen und von mir
erzählen. Zum Beispiel dieses:
Acht Stunden am Tag Deutsch lernen - das stresst nicht nur die Schüler |
Da habe ich im Namen der „Aktion Friedensdorf Oberhausen“ Kindern
aus Vietnam Deutschunterricht gegeben - drei Wochen in einem Internat in
Neukirchen-Vluyn (heute Moers). Sie sollten hier Deutsch lernen, eine
Ausbildung bekommen (meistens Orthopädie oder Krankengymnastik) und dann zurück
nach Vietnam gehen, um zu helfen, das zerstörte Vietnam aufzubauen.
Eine junge Frau war dabei, die nicht am Unterricht
teilnehmen, sondern für uns alle kochen sollte. Nur: Sie war gerade siebzehn
und überfordert. Sie wusste auch nichts davon, dass sie unsere Köchin war. Ihr
Vater hatte die „richtige“ Köchin überredet, erst später auszureisen, damit
seine Tochter, die chronisch krank war, hier in Europa behandelt werden konnte.
In den Wirren des Kriegsendes ließen sich leicht ein Pass und andere Papiere
besorgen. „Such dir zuerst einen Mann, der dich heiratet, damit du in
Deutschland bleiben kannst“, hatte er zu ihr gesagt.
Hat sie getan. Das war dann ich.