Es kommt nicht oft vor, dass ich
einen Roman zu lesen beginne und mir die Zeit nehme (d.h. andere Aufgaben einfach liegen lasse), um es auf einen
Rutsch zu verschlingen. Ich meine jetzt nicht die Unterhaltungsromane, mit
denen ich mir Wartezeiten beim Arzt oder lange Fahrzeiten in der Straßenbahn
erträglich mache, sondern ich meine Bücher, die mir plötzlich wichtiger werden
als alles andere und für die ich bereit bin, Lebenszeit zu opfern, weil ich
merke, das ich mehr zurückbekomme als das bisschen Zeit, das ich dafür gebe.
Zuletzt ist mir das passiert mit "Duft nach Weiß" von Stefanie Gregg
(Pendragon Verlag).
Zunächst hat es mich irritiert,
dass es hier mehrere separate Handlungsstränge gibt, die auch noch zu
unterschiedlichen Zeiten spielen, und anfangs weiß der Leser nicht, was diese
Personen und Handlungen miteinander zu tun haben. Das Lesen wäre mir zumindest
am Anfang schwer gefallen, wenn nicht die Kapitel zur Verdeutlichung jeweils mit einer Jahreszahl
und einer Ortsangabe überschrieben wären. Doch nun kristallisiert sich schnell eine
Geschichte heraus, die Geschichte der jungen Bulgarin Anelija, die mit ihrem
Freund unterwegs ist in ihre alte Heimat, um eine Abtreibung vornehmen zu
lassen, die ihr in Deutschland nicht oder nur unter Schwierigkeiten gewährt
würde. Während der Fahrt kommen die Erinnerungen - die Motive, Sehnsüchte,
realen Erfahrungen, Enttäuschungen, und die Geschichte entwickelt sich zu einem
spannenden Geflecht.
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In ihrer Kinderzeit bekommt Anelija
immer wieder Briefe von ihrer Mutter aus Deutschland, das bald zum Land ihrer
Sehnsucht wird. Wenn die Mutter aber nicht zu ihr kommt, will sie bei ihrer Mutter
sein. Sie träumt von dem Land, wo diese ist - Deutschland ist so weiß wie das
Papier, auf dem die Briefe geschrieben sind. Ein unschuldiges Weiß, auf dem
doch Lügen und Ausflüchte stehen, wie sie später erfahren muss.
Anelija lernt Deutsch, richtet
ihr ganzes Leben nach ihrer Sehnsucht aus, wagt die Flucht in einem Kühllaster,
die sie fast das Leben kostet (damit beginnt der Roman übrigens, und diese gefährliche Flucht erinnert an ein reales Ereignis in jüngster Zeit, was den Leser natürlich zusäzlich um die Heldin bangen lässt).
Flucht ist eigentlich hier das falsche Wort - es geht nicht darum, irgendwo weg zu kommen, sondern irgendwo hin, zur Mutter, der das plötzliche Auftauchen des fast erwachsenen Kindes peinlich und sogar eine Katastrophe ist. Entsprechend ist Anelija dann erst einmal orientierungslos. Ihr großer Traum hat sich nicht erfüllt. Ihre Mutter war damals mit einem Kind überfordert, hatte ganz andere Wünsche und Sehnsüchte und hat sich diese Wünsche nach einem besseren Leben größtenteils erfüllt - im Grunde geschah das auf Kosten der Kleinen und war, meiner Ansicht nach, auch nichts anderes als die Abtreibung, zu der Anelija heute unterwegs ist.
Flucht ist eigentlich hier das falsche Wort - es geht nicht darum, irgendwo weg zu kommen, sondern irgendwo hin, zur Mutter, der das plötzliche Auftauchen des fast erwachsenen Kindes peinlich und sogar eine Katastrophe ist. Entsprechend ist Anelija dann erst einmal orientierungslos. Ihr großer Traum hat sich nicht erfüllt. Ihre Mutter war damals mit einem Kind überfordert, hatte ganz andere Wünsche und Sehnsüchte und hat sich diese Wünsche nach einem besseren Leben größtenteils erfüllt - im Grunde geschah das auf Kosten der Kleinen und war, meiner Ansicht nach, auch nichts anderes als die Abtreibung, zu der Anelija heute unterwegs ist.
Es gibt über diese Geschichte,
die mit so ruhigen Worten erzählt wird und doch hochdramatisch ist, noch so
viel zu sagen. Ich habe hier einen Handlungsstrang völlig unbeachtet gelassen,
nämlich den des Schriftstellers Markow, der anfangs mit dem Diktator persönlich
vertraut ist, dann aber in Ungnade fällt und das Land verlässt, um zu einem der
wichtigsten propagandistischen Gegner des Regimes zu werden. Er arbeitet für
diverse Radiosender und Zeitschriften und ist dem Regime in Bulgarien ein Dorn
im Auge. Der Geheimdienst wird beauftragt, ihn zu beseitigen, und es kommt zu
dem bekannten "Regenschirmmord" der weltweit durch die Presse ging.
Wie diese Geschichte mit den Ereignissen um Anelija und ihre Familie verknüpft
ist, wird erst ganz allmählich klar, und die dadurch entstehende Spannung will
ich hier dem Leser nicht rauben.
Ich habe diesen Roman gern
gelesen und werde es bestimmt noch ein zweites Mal tun, denn er ist
vielschichtig, stellt eine Vielzahl von Fragen und gibt auf manche eine Antwort. Am Ende steht
man zum Beispiel der Erkenntnis gegenüber, dass die Motivation, ein totalitäres
Land zu verlassen, nicht nur rein politisch oder wirtschaftlich begründet sein
muss, sondern eine vielschichtige Sehnsucht nach Freiheit und einem Neuanfang beschreibt -
ein guter Anlass, darüber nachzudenken, besonders in unseren Zeiten.
Stefanie Gregg: Duft nach Weiß
Pendragon, 15,00 €, SBN:
978-3-86532-552-5
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