Didis Bücherturm

Freitag, 16. Oktober 2015

Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!



Dieses Brecht-Zitat aus dem Epilog von „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ kam mir in den letzten Tagen und Wochen immer deutlicher in den Sinn. Zwei Ereignisse von vielen in dieser jüngsten Zeit möchte ich stellvertretend schildern.
(Danke, pixabay!)
Die Verkäuferin
Ende August wurde in Österreich ein LKW mit den Leichen von 71 erstickten Flüchtlingen am Rand einer Autobahn entdeckt. Die „BILD“-Zeitung, die an einem Kiosk gegenüber der „Kapellenschule“, einer Hauptschule in meiner Nachbarschaft, ausgehängt war, titelte etwas von über 50 Toten. Ich kam in den Laden, um meiner dreijährigen Tochter etwas zu trinken zu kaufen. Es war noch ein etwa elfjähriges Mädchen anwesend. Wie gesagt, es ist ja eine Schule gegenüber, und es kommen wohl oft Kinder herein. Ich deutete auf die Zeitung und sagte: „Inzwischen weiß man, dass es sogar über siebzig Leute sind, die da ums Leben kamen.“
Antwort der Verkäuferin: „Die können uns wenigstens nicht mehr auf der Tasche liegen.“ Sie war sogar richtig stolz auf ihre geniale Meinung.
Ich habe meine Tochter genommen und bin gegangen. Den Laden habe ich seitdem nicht mehr betreten. Wer so zynisch ist und den Massenmord an Menschen gut heißt, die unsere Hilfe suchen, darf nicht an mir oder meiner Familie auch noch Geld verdienen.
(auch von pixabay)

Die Hauswirtin
Meine Frau schickt regelmäßig Sachen auf die Philippinen, die dort gar nicht, sehr schwer oder nur sehr teuer erhältlich sind. Lebensmittel und Kinderkleidung sowie Schreibmaterial für Schüler gehören auch dazu. Meine Schwiegermutter verteilt dann die Sachen im Dorf. Heute wurden zwei dieser riesigen „Balikbayan“-Pakete vom Spediteur abgeholt, jedes rund 80 bis 100 Kilo schwer. Ich erklärte unserer staunenden Hauswirtin, die gerade den Hinterhof vom Herbst befreite, dass darin Hilfsgüter für arme Menschen im Norden der Philippinen transportiert werden (wo übrigens zur Zeit wieder mal ein heftiger Wirbelsturm für Überschwemmungen, Erdrutsche und Starkwellen sorgt). Immerhin haben zur Zeit weniger als 5% der Leute im Heimatdorf meiner Frau einen Arbeitsplatz, und meist ist dies kein fester. Das erklärte ich Frau ù. Ihre Antwort, sehr bitter: „Dann holen Sie doch einfach alle hierher nach Deutschland. Wir haben ja Platz genug. Sehen Sie doch.“

Was soll ich dazu sagen?
Ja, liebe Frau ù, das haben wir. Auch wenn Sie es nicht so gemeint haben. Was denken Sie, wie viel Platz wir damals geschaffen haben, als wir Deutschen Millionen von Menschen vertrieben, vergast und im Krieg umgebracht haben. Als mindestens ebenso viele vor uns und den Grausamkeiten unserer SS geflohen sind. Sie haben ja recht - so viel Platz ist bei uns mindestens frei! Und was war mit den 14 Millionen Flüchtlingen, die damals aus dem Osten kamen, aus Schlesien, Pommern und dem Sudetenland? Die zählen ja nicht als Fremde. Das waren ja alles Deutsche. Dass sie es gerade hier in Bayern äußerst schwer hatten, ist längst vergessen. Aber wir haben das verkraftet, obwol ganz Deutschland am Boden lag - die Städte zerbombt, die Wirtschaft zerschlagen, die Bahnlinien zersprengt.
Und was hatten wir dann davon? Wir mussten den unwillkommenen Hilfesuchenden, die alles verloren hatten,Wohnungen bauen und ihre Kinder, soweit diese nicht auf der Flucht erfroren waren, in die Schule schicken.
Das war dann unsere große Leistung in den 50ern: Wiederaufbau, Neuaufbau. Schaffung ganzer neuer Städte wie Geretsried oder Neugablonz. Mein Wohnort Hattingen, damals gerade mit 30.000 Einwohnern, wuchs auf weit über 50.000. Und alle hatten Arbeit. Irgendwer musste ja die neuen Häuser bauen, und die Straßen. Und die Schulen. Für neue Buslinien in die Vorstädte wurden Fahrer gebraucht, für die Schulen Lehrer. Dazu wurden sogar welche aus dem Ruhestand geholt. Die Leute hatten plötzlich Geld in der Tasche, kauften ein - die Geschäfte, Dienstleister, Behörden - alle brauchten eine Menge neues Personal. Zum Teil waren das natürlich Flüchtlinge - gut ausgebildete, qualifizierte Leute. Diese konnten sich, genau wie die „Hiesigen“, plötzlich wieder etwas leisten - Kleider, Musiktruhen, Kühlschränke, gutes Essen im Restaurant. Die Menschen kauften alle halbe Jahre den Quelle-Katalog leer. Die Wirtschaft boomte. Man fuhr mit der Isetta an den Gardasee oder nach Rimini.
Es war nicht nur die amerikanische Hilfe, die uns damals stark gemacht hat (ohne dass ich die Verdienste der USA schmälern will: Immerhin erinnere ich mich noch voller Dankbarkeit an die Care-Pakete, die unsere Familie zeitweise über Wasser gehalten haben), aber ohne die Flüchtlinge aus dem Osten wäre es damals nie zu Vollbeschäftigung (und Personalknappheit!) gekommen. Es hat sich vielfach ausgezahlt. Und das nannte man dann „Wirtschaftswunder“.