Dieses Brecht-Zitat aus dem Epilog von „Der aufhaltsame
Aufstieg des Arturo Ui“ kam mir in den letzten Tagen und Wochen immer
deutlicher in den Sinn. Zwei Ereignisse von vielen in dieser jüngsten Zeit
möchte ich stellvertretend schildern.
(Danke, pixabay!) |
Die Verkäuferin
Ende August wurde in Österreich ein LKW mit den Leichen von
71 erstickten Flüchtlingen am Rand einer Autobahn entdeckt. Die „BILD“-Zeitung,
die an einem Kiosk gegenüber der „Kapellenschule“, einer Hauptschule in meiner
Nachbarschaft, ausgehängt war, titelte etwas von über 50 Toten. Ich kam in den
Laden, um meiner dreijährigen Tochter etwas zu trinken zu kaufen. Es war noch
ein etwa elfjähriges Mädchen anwesend. Wie gesagt, es ist ja eine Schule
gegenüber, und es kommen wohl oft Kinder herein. Ich deutete auf die Zeitung
und sagte: „Inzwischen weiß man, dass es sogar über siebzig Leute sind, die da
ums Leben kamen.“
Antwort der Verkäuferin: „Die können uns wenigstens nicht
mehr auf der Tasche liegen.“ Sie war sogar richtig stolz auf ihre geniale Meinung.
Ich habe meine Tochter genommen und bin gegangen. Den Laden
habe ich seitdem nicht mehr betreten. Wer so zynisch ist und den Massenmord an
Menschen gut heißt, die unsere Hilfe suchen, darf nicht an mir oder meiner
Familie auch noch Geld verdienen.
(auch von pixabay) |
Die Hauswirtin
Meine Frau schickt regelmäßig Sachen auf die Philippinen,
die dort gar nicht, sehr schwer oder nur sehr teuer erhältlich sind. Lebensmittel
und Kinderkleidung sowie Schreibmaterial für Schüler gehören auch dazu. Meine
Schwiegermutter verteilt dann die Sachen im Dorf. Heute wurden zwei dieser riesigen
„Balikbayan“-Pakete vom Spediteur abgeholt, jedes rund 80 bis 100 Kilo schwer.
Ich erklärte unserer staunenden Hauswirtin, die gerade den Hinterhof vom Herbst befreite, dass darin Hilfsgüter für arme
Menschen im Norden der Philippinen transportiert werden (wo übrigens zur Zeit
wieder mal ein heftiger Wirbelsturm für Überschwemmungen, Erdrutsche und
Starkwellen sorgt). Immerhin haben zur Zeit weniger als 5% der Leute im
Heimatdorf meiner Frau einen Arbeitsplatz, und meist ist dies kein fester. Das erklärte ich Frau ù. Ihre Antwort, sehr bitter: „Dann holen Sie
doch einfach alle hierher nach Deutschland. Wir haben ja Platz genug. Sehen Sie doch.“
Was soll ich dazu sagen?
Ja, liebe Frau ù, das haben wir. Auch wenn Sie es nicht so
gemeint haben. Was denken Sie, wie viel Platz wir damals geschaffen haben, als
wir Deutschen Millionen von Menschen vertrieben, vergast und im Krieg
umgebracht haben. Als mindestens ebenso viele vor uns und den Grausamkeiten
unserer SS geflohen sind. Sie haben ja recht - so viel Platz ist bei uns mindestens frei! Und was
war mit den 14 Millionen Flüchtlingen, die damals aus dem Osten kamen, aus
Schlesien, Pommern und dem Sudetenland? Die zählen ja nicht als Fremde. Das
waren ja alles Deutsche. Dass sie es gerade hier in Bayern äußerst schwer
hatten, ist längst vergessen. Aber wir haben das verkraftet, obwol ganz Deutschland am Boden lag - die Städte zerbombt, die Wirtschaft zerschlagen, die Bahnlinien zersprengt.
Und was hatten wir dann davon? Wir mussten den unwillkommenen Hilfesuchenden, die alles verloren hatten,Wohnungen bauen
und ihre Kinder, soweit diese nicht auf der Flucht erfroren waren, in die Schule schicken.
Das war dann unsere große Leistung in den 50ern:
Wiederaufbau, Neuaufbau. Schaffung ganzer neuer Städte wie Geretsried oder
Neugablonz. Mein Wohnort Hattingen, damals gerade mit 30.000 Einwohnern, wuchs
auf weit über 50.000. Und alle hatten Arbeit. Irgendwer musste ja die neuen Häuser
bauen, und die Straßen. Und die Schulen. Für neue Buslinien in die Vorstädte
wurden Fahrer gebraucht, für die Schulen Lehrer. Dazu wurden sogar welche aus
dem Ruhestand geholt. Die Leute hatten plötzlich Geld in der Tasche, kauften
ein - die Geschäfte, Dienstleister, Behörden - alle brauchten eine Menge neues
Personal. Zum Teil waren das natürlich Flüchtlinge - gut ausgebildete, qualifizierte
Leute. Diese konnten sich, genau wie die „Hiesigen“, plötzlich wieder etwas
leisten - Kleider, Musiktruhen, Kühlschränke, gutes Essen im Restaurant. Die Menschen
kauften alle halbe Jahre den Quelle-Katalog leer. Die Wirtschaft boomte. Man fuhr mit der Isetta an den Gardasee oder nach Rimini.
Es war nicht nur die amerikanische Hilfe, die uns damals
stark gemacht hat (ohne dass ich die Verdienste der USA schmälern will:
Immerhin erinnere ich mich noch voller Dankbarkeit an die Care-Pakete, die
unsere Familie zeitweise über Wasser gehalten haben), aber ohne die Flüchtlinge
aus dem Osten wäre es damals nie zu Vollbeschäftigung (und Personalknappheit!)
gekommen. Es hat sich vielfach ausgezahlt. Und das nannte man dann
„Wirtschaftswunder“.