Wer erinnert sich nicht an "Der rote Großvater erzählt" und ähnliche berühmte Fischer-Taschenbücher, die in den 70er und 80er Jahren erschienen und praktisch in jeder deutschen Buchhandlung auslagen? Damals hatten Arbeiter und Angestellte angefangen, aus ihrem Berufsalltag zu berichten. Es ging nicht um hohe Literatur und ausgefeilte stilistische Ziselierungen, sondern um die Schilderungen der Realitäten des Arbeitsalltags – um Ausbeutung, Schikanen, Folgen der Schichtarbeit, Arbeitslosigkeit und allem, was mit dem weiten Begriff "Arbeitswelt" zu tun hat. Herausgeber war der "Werkkreis Literatur der Arbeitswelt", eine Vereinigung schreibender Arbeiter und Angestellter, und es gingen daraus heute so bekannte Namen wie Max von der Grün, Erasmus Schöfer, Günter Wallraff oder August Kühn hervor. Die Idee war, dass jeder, der im Abhängigkeitsfeld der Arbeitswelt steht, darüber auch schreiben kann und soll, um sich selbst und anderen eine Bewusstwerdung zu ermöglichen. Da viele sich das Schreiben nicht zutrauten, wurden "Werkstätten" geschaffen, wo man Geschriebenes erst einmal intern einem Kreis von Gleichgesinnten vorstellte und sich mit gegenseitiger offener Kritik weiterhalf. Das war vor vierzig Jahren, und die breite Öffentlichkeit sowie die bürgerliche Presse gaben diesem Experiment keine großen Chancen, zumal "hohe Literatur" davon nicht zu erwarten, war, und die Nähe zu den Gewerkschaften erschien dem bürgerlichen Lager ohnehin suspekt.
Nun, heute ist der "Werkkreis", ein deutschlandweiter Zusammenschluss dieser schreibenden Laien, vierzig Jahre alt, und nach einer gewissen Flaute, die dem vorübergehenden Niedergang der Linken als Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion und des Endes der DDR zu verdanken war, was alles "Linke" zunächst als antiquiert und unbrauchbar erscheinen ließ, blüht der Werkkreis wieder auf, es gibt zahlreiche Werkstätten im ganzen Land und eine Zunahme der Mitgliederzahlen – erstaunlicherweise auch unter jungen Leuten. Ein kleiner, aber engagierter Verlag, der Geest-Verlag in Vechta, hat sich vieler Autoren angenommen und ihre Arbeiten in Anthologien oder Einzelpublikationen veröffentlicht.
Nun ist zum vierzigjährigen Jubiläum dieses sehr lebendigen Vereins eine Anthologie erschienen, die den Querschnitt der heutigen Arbeit zeigt, allerdings nicht beim Geest-Verlag, sondern in der Münchner Edition Einhorn, mit einem Holzschnitt von Joachim Graf auf der Titelseite und einer Vielzahl von Texten, die die Bandbreite der im "Werkkreis" Schreibenden zeigt. Man muss noch immer keine elitäre Literatur erwarten, dafür findet man eine Vielzahl engagierte Texte, die auch die Wandlung der Arbeits- und Lebenswelt in diesen vierzig Jahren bis heute widerspiegelt. Gedichte, Erzählungen, Romanauszüge, Satiren – hier zeigt sich eine große Vielfalt, die sich auch in den Namen der beteiligten Autorinnen und Autoren ausdrückt. So mancher Text hat mich beeindruckt, während Anderes mir allzu lapidar erschien, aber die Texte sind halt so unterschiedlich wie die Teilnehmer an diesem Lesebuch, das auf 230 Seiten eine Menge Abwechslung bietet. Erfreulich ist auch die Vielzahl nichtdeutscher Namen, die auf eine gelungene Einbeziehung vieler im Ausland geborener Arbeitnehmer hinweist, die im Werkkreis besonders engagiert sind.
Zu bemängeln ist leider das Inhaltsverzeichnis, das neben den Titeln auch die Namen der Autoren hätte nennen sollen, auch fehlt ein Anhang mit den Namen und Veröffentlichungen derer, die hier einen Beitrag geleistet haben. Aber diese Unterlassungssünden vergisst man bei der Lektüre vieler eindrucksvoller Beiträge. Dem Buch ist Erfolg zu wünschen – und ein besserer Vertrieb, denn eine ISBN ist keine Garantie mehr dafür, dass man einfach in den Buchladen gehen und den Titel bestellen kann: Im Internet, z.B. bei "amazon", ist das Buch aufgeführt, aber ohne Wiedergabe des Titelbildes und mit zum Teil falsch geschriebenen Herausgebernamen – und dort leider auch nicht bestellbar. Am besten ist es also, man wendet sich an ein Werkkreismitglied unter seinen Bekannten, oder ruft die Homepage des Werkkreises auf: www.werkkreis-literatur.de. Einzelbestellungen werden hier portofrei ausgeliefert. Dort findet man auch eine Menge weitergehende Informationen sowie die bisherigen Anthologien der engagierten Vereinigung und die Bücher vieler Mitglieder. Den Verlag findet man unter www.edition-einhorn.de.
Anders, Dosch, Michel, Stüwe, Rümmler (Hrsg.): "Nur das halbe Leben – Geschichten aus der Arbeitswelt. 40 Jahre Werkkreis Literatur der Arbeitswelt". Edition Einhorn, München 2010, 230 Seiten, illustriert, Paperback, Preis 9,80 Euro
Bestellung: www.werkkreis-literatur.de.