Didis Bücherturm

Sonntag, 22. März 2015

Alte Fotos



Sonntag, Arbeitstag
Nachdem ich den ganzen Tag gearbeitet hatte, überkam mich das Bedürfnis, an die frische Luft zu gehen. Es war kein sonniger Tag, und als ich gegen 17 Uhr draußen war, hätte es Mitte November sein können, statt Frühling. Die einzige Möglichkeit, hier in der Nähe spazieren gehen zu können, ist der Nordfriedhof.
Ich nahm bewusst einen anderen Weg als den, den ich sonst zur Post gehe, und studierte die Namen auf den Grabsteinen. Es gibt sie noch, die alten schwäbischen Familiennamen wie Demharter oder Geiger, wie sie in meinem neuen Krimi auftauchen, aber zunehmend finden sich russische, polnische, türkische oder gar chinesische Namen. Viele sind nicht einmal so alt geworden wie ich es jetzt bin.

Auf dem Friedhof
Die vielen Blumen, Schneeglöckchen und Krokusse, die hin und her huschenden Eichhörnchen und die schimpfenden Vögel brachten mir doch eine frühlingshafte Leichtigkeit, aber rings um mich her waren Grabsteine und Trauergestecke. Ich verließ den Friedhof und ging zwischen der Außenmauer und der Bahnlinie entlang. Züge vermitteln mir immer eine Art Aufbruchstimmung.
Was passiert mit meinen Lieben, dachte ich, wenn ich nicht mehr bin? Meine zweite Frau ist halb so alt wie ich, unsere Tochter ist drei.
Das einzige, was ich ihnen hinterlassen kann, sind die Bücher, die ich schreibe. Ich habe vor einem halben Jahr eine Archiv-Stiftung in Württemberg gefunden, die meine Sachen in Verwahrung nehmen würde. Das klappt nur, weil ich auch eine Weile in Württemberg gelebt habe. Ich kann Belegexemplare, Manuskripte, Fragmente, Briefe, Fotos usw. dort unterbringen und habe eine Kiste im Arbeitszimmer stehen, in die alles hineinkommt, was ich für würdig erachte.
Nun habe ich mehrere Archivkartons mit Fotos. Einen habe ich schon durchgesehen. Viel davon konnte auf den Müll. Landschaften, von denen ich nicht mehr weiß, wo sie sind oder warum ich sie aufgenommen habe. Strukturen wie Baumrinden, Steine, Flechten - in schlechtester Fotoqualität und zum Teil dreißig bis vierzig Jahre alt. Weg damit. Diesen Ballast habe ich Jahrzehnte mit mir herumgeschleppt! Familienfotos werden eingescannt und gehen an meinen Bruder, für die Familienchronik. Fotos aus meinem Leben werden ebenfalls eingescannt und gehen zum Teil mit an das Archiv. Manchmal, wenn sie wichtige oder interessante Erinnerungen hervorrufen, könnte ich sie auch hier einstellen und von mir erzählen. Zum Beispiel dieses:

Acht Stunden am Tag Deutsch lernen - das stresst nicht nur die Schüler
Da habe ich im Namen der „Aktion Friedensdorf Oberhausen“ Kindern aus Vietnam Deutschunterricht gegeben - drei Wochen in einem Internat in Neukirchen-Vluyn (heute Moers). Sie sollten hier Deutsch lernen, eine Ausbildung bekommen (meistens Orthopädie oder Krankengymnastik) und dann zurück nach Vietnam gehen, um zu helfen, das zerstörte Vietnam aufzubauen.
Eine junge Frau war dabei, die nicht am Unterricht teilnehmen, sondern für uns alle kochen sollte. Nur: Sie war gerade siebzehn und überfordert. Sie wusste auch nichts davon, dass sie unsere Köchin war. Ihr Vater hatte die „richtige“ Köchin überredet, erst später auszureisen, damit seine Tochter, die chronisch krank war, hier in Europa behandelt werden konnte. In den Wirren des Kriegsendes ließen sich leicht ein Pass und andere Papiere besorgen. „Such dir zuerst einen Mann, der dich heiratet, damit du in Deutschland bleiben kannst“, hatte er zu ihr gesagt.
Hat sie getan. Das war dann ich.

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